Ethische Bewertung der antiken griechischen Musik

von

Helmut Brand

Die Griechen erkannten früh und mehr als andere Kulturen die Wechselbeziehung zwischen Musik und Seelenstimmung – die durch Musik bewirkten Affekte wie Trauer, Freude sowie den Einfluß der Musik auf den Menschen. Den Komplex der Auswirkung der Musik auf die Seele bezeichnet man als Ethoslehre.

Die alten Griechen schrieben insbesondere bestimmten Rhythmen und Harmonai eine gewisse Wirkung auf den Seelenzustand zu. Allerdings gab es in der Antike große Unterschiede in den Theorien der unterschiedlichen Autoren bezüglich des Einflusses der Musik auf den Menschen.

Einig waren sich die antiken Autoren darin, dass es einen Unterschied bezüglich des Tones von Leier (leise, lieblicher) und Aulos (scharf, laut) gab. Durch die Ekstase bis zur Entladung konnte bei der Aulosmusik eine Entspannung bewirkt werden, die analog zu physischen Reinigungsmaßnahmen Katharsis (Reinigung) genannt wird. Solch eine Wirkung wird bei der Leier nie erwähnt.

In der Aulosmusik bevorzugte man meist phrygische Weisen in phrygischen Harmonien. Die ältesten (mythischen) Auleten sind phrygischer Herkunft (Hyagnis, Marsyas, Olympos). Im Dithyrambos wurden ebenfalls phrygische Harmonien verwendet.

Demgegenüber repräsentieren die überwiegend auf der Leier gespielten dorischen Harmonien Ruhe, Würde, Männlichkeit. Noch Platon bezeichnet die dorischen Harmonai als die einzig hellenischen.

In Folge dieses Gegensatzes hat man auch anderen Harmonien bestimmte Wirkungen zugeschrieben.

 

Pythagora/Pythagoreer

Die Pythagoreer Ende des 6. Jh. waren die ersten, die sich mit dem Zusammenhang Musik – Seele beschäftigten. Aus dem Zusammenhang Musik - Seele hat wohl Pythagoras selbst den Grundsatz 'Kosmos = Harmonie und Zahl' aufgestellt. Nach Meinung der Pythagoreer waren die körperliche und die seelische Verfassung durch die richtigen tropoi = harmoniai beeinflussbar.

Pythagoras glaubte, man könne durch die Mischung aller drei Tongeschlechter (Diatonisch, enharmonisch, chromatisch) alle Affekte heilen.

 

Damon (Sophist, Musiklehrer des Perikles)

Damon, dessen Wirkungszeit in der Mitte 5. Jh. v. Chr. lag, hat eine systematische Musiklehre entworfen, von der einiges durch Platon und andere überliefert ist. Damon warnt, wie auch Platon, vor Änderungen in der Musik. Diese würden immer einhergehen mit umfassenden politischen Änderungen.

Nach Damon führt Musik zur Arete (Tüchtigkeit) und ist daher wichtig für die Erziehung. Musik kann bei Jugendlichen sittliches Verhalten erzeugen und vorhandene Ansätze verstärken.

Musik in der Erziehung spielte wohl schon bei den Spartanern im 7. Jh. während der Karneen eine Rolle, erst später auch in Athen.

Die Erziehung beim Musiklehrer genoss einen hohen Stellenwert, der zu Zeiten Platons wohl im Sinken begriffen war.

Platon

Platon weist der Musik ins seinem "Staat" eine besondere Rolle zu.

Wichtige Überlegungen Platons zu Musik zur Rolle der Musik innerhalb der Gesellschaft finden sich in seinen Werken "Staat" und "Gesetze".

Im "Staat" geht Platon mehr auf Sinn und Funktion ein, während in den nomoi (Gesetzen) der Einsatz und die Anwendung der Musik genau geregelt wird. Gesang und Musikunterricht soll bei der Knabenerziehung homophon erklingen, Verzierungen und Umspielen der Gesangsmelodie sind zu vermeiden, um den Schüler nicht zu verwirren.

Bei den Erwachsenen erlaubt Platon Musikausübung nur im Zusammenhang mit Götterhymnen und Enkomien (= Preislieder) auf Heroen und herausragende Persönlichkeiten.

Die richtige Kenntnis der Rhythmen und Melodien ist nach Platon wichtig, damit Lieder für freie Bürger nicht den Rhythmus von Sklavenmusik haben; d. h. es gab bestimmte Lieder für bestimmte Gruppen. Reine Instrumentalmusik ist ebenso verpönt wie alle vieltönigen Instrumente. Erlaubt sind nur die Leier sowie die Syrinx für den Zeitvertreib der Hirten auf dem Feld.

Musik gehört in den Bereich der Mimesis (Nachahmung), daher müsse im Idealstaat darauf geachtet werden, daß nichts Schlechtes oder Verwerfliches nachgeahmt wird. Nur zwei Harmoniai werden positiv beurteilt: dorisch als Inbegriff der Tapferkeit und kriegerischen Männlichkeit und phrygisch (sic!) als Ausdruck friedlichen Lebens. Alle anderen Harmoniai stehen für Trauer, Weichlichkeit, Trägheit, Trunkenheit usw.

Platon hat sich zwar auch mit Musiktheorien beschäftigt (Staat 531 a ff. setzt er sich mit den Pythagoreern auseinander, Timaios 35 a ff. handelt er über den Aufbau der Tonleiter), der Einfluß auf die sittliche Entwicklung des Menschen steht jedoch im Vordergrund.

 

Aristoteles

Aristoteles Bewertung der Musik gründet in seinem Idealstaat zwar auf Anschauungen seines Lehrers Platon, in wichtigen Punkten unterscheidet er sich aber auch von seinem Lehrer (v. a. in Politika VIII). Nach Aristoteles ist die Beschäftigung mit Musik wichtig, da sie der Erheiterung und Entspannung (paidia, anapausis) und dem gehaltvollen Zeitvertreib (daigoge) dient, ihr besonderer Wert liegt darin, auf Ethos und Seele einwirken zu können. Melodien und Rhythmen ahmten Wirklichkeit nach (omoios = ähnlich). Ihre Omoiomata (Äquivalente) zu Affekten wie Zorn, Milde, Tapferkeit erweckten in uns gleiche Seelenzustände wie die Affekte in der Realität. Diese Fähigkeit der Musik sollte in der Erziehung genutzt werden. In der Paidia ist es nicht nur wichtig, Musik zu hören, nur durch eigene Musikausübung könne die richtige Urteilsfähigkeit über den eigentlichen sittlichen Wert von Harmonien und Rhythmen erworben werden. Der Musikunterricht sollte nur bis zu dieser Stufe der Erziehung gehen, da es nicht das Ziel sein sollte, die Jugendlichen zu Berufsmusikanten zu erziehen.

Auloi und andere technisch schwierigen Instrumente sind vom Musikunterricht auszuschließen. Daraus kann man schließen, daß das Leierspiel gegenüber dem Aulosspiel als das einfachere angesehen wird. Anders als bei Platon ist die Aulosmusik aber ausdrücklich erlaubt, wenn sie katharsische (reinigende) Wirkung hat, auch bei öffentlichen Ereignissen.

Die dargebotene Musik sollte nicht auf einer ethisch höheren Ebene liegen als es dem Niveu des zuhörenden Publikum entspricht. Einfache Bürger sollten demnach keine qualitativ hochstehende Musik hören.

Nach Aristoteles muß große Sorgfalt angewandt werden bei der Auswahl der Harmoniai für die Erziehung. Er unterteilt die Harmonien in ethische, praktische und enthusiastische: ethische sind für die Erziehung zu verwenden, praktische und enthusiastische für den Vortrag von Berufsmusikern.

Ethisch ist vor allem das Dorische, jedoch können auch noch andere Melodien ethische Wirkung erzielen, wobei sich Aristoteles auf andere Philosophen und Mousikoi bezieht.

Aristoteles übt Kritik an Platon, der neben Dorisch Phrygisch zuläßt, während der Aulos verdammt wird. Beider Eigenschaft, sowohl die des Instrumentes wie der Melodie, seien orgiastisch und leidenschaftlich.

Aristoteles Beurteilung der Rhythmen ist nicht mehr erhalten.

Wahrscheinlich hatte die Musikerziehung bei den Griechen zu den Zeiten Platons und Aristoteles nicht mehr den Stellenwert, den sie früher gehabt hat, da v. a. Platon in vielen Aspekten den Zustand des 6. Jh. v. Chr. restaurieren will.

Bewertung der Musik durch Philosophen in der Nachfolge Aristoteles und Platons

Theophrast

371-287 v. Chr.

  • Musik bewegt die Seele (wechselseitige Wirkung)
  • Von den Sinnen kann nur das Gehör kann seelische Wirkung hervorrufen
  • heilende Wirkung der Musik: Ischiaskranke können durch Aulosmusik geheilt werden

Aristoxenos

Um 350 v. Chr.

  • Bevorzugt die Musik der "Alten" vor der verwirrenden neuen, wie sie in den Theatern (seiner Zeit) gespielt wurde
  • Musikunterricht anhand alter Weisen, immer begleitet von Philosophie, da diese allein zu Urteil über das Nützliche der Musik fähig sei
  • zeigt Grenzen der Harmonielehre auf:

Diogenes von Babylon (Stoiker)

2. Jh. v. Chr.

  • Umfangreiche Abhandlungen über den Wert der Musik, baut auf Gedankengut von Vorgängern auf
  • Neuerung: Unterteilt in natürliches Wahrnehmungsvermögen (Unterschied laut – leise) und ein geschultes Wahrnehmungsvermögen (Qualität eines Musikstückes)

Philodem (Epikureer)

1. Jh. v. Chr.

  • Kritisiert Diogenes v. Babylon
  • Kein Einfluß der Musik auf den Seelenzustand; Musik ruft höchstens Freude und Ergötzen hervor

In hellenistischer Zeit gab es zwei Gegenrichtungen: Die Stoiker betonten die sittliche Wirkung der Musik, die Epikureer sprachen der Musik keine sittliche Wirkung zu und wollten Musik nur als Genuß für das Ohr gelten lassen. Die "Ethiker" behielten jedoch bis in die späte Antike" das Übergewicht.

Zusammenfassend kann man sagen, dass in der Antike der Musik weitgehend die Seele beeinflussende Wirkungen zugeschrieben wurden, wobei vor allem die Abfolge der Töne eine. besonderen Einfluß hatte, gefolgt von den Rhythmen und dem Klang, d. h. dem verwendeten Instrument.

Merkmale der einzelnen Modi nach Aussage der antiken Autoren

Dorisch

  • erhaben-feierlich, männlich, kriegerisch, besonnen

  • geeignet für Schulunterricht

  • auch für Mädchen- und Liebeslieder, Klagelieder in der Tragödie

Phrygisch

  • Kleinasiatische Herkunft

  • Tonart des Orgiastischen und des Dionysoskultes
  • gehört zum Dithyrambos (Chorlied, Ursprung des Dramas)
  • kathartische Wirkung

Lydisch

  • Kleinasiatische Herkunft

  • kein eindeutiger Charakter
  • Klage und Trauer
  • Schrille Tonlage

Mixolydisch

  • Soll von Sappho oder Terpandros (Aristoxenos) erfunden worden sein

  • Gibt das Leidenschaftliche (pathetikon) wieder

Aiolisch

  • Kein eindeutiger Charakter erkennbar

  • Herakleides: hochmütig, eingebildet, aber auch mutig, aufgelockert,. Soll laut H. mit dem Hypodorischen gleich sein

Iastisch (= Ionisch)

  • Ernst, streng,

  • Herakleides: dem ursprünglichen Charakter der Ionier angemessen, in der Tragödie verwendet, da die Ionier später den Charakter hin zur Völlerei änderten, habe sich auch der Charakter diesbez. geändert
  • Platon: weichlich, passend für Trunk- und Symposionlieder

 

Beurteilung der Tongeschlechter

Diatonisch

  • Aristoxenos: ältestes Geschlecht

  • natürlich, allgemein verständlich, singbar
  • würdig, stark

Chromatisch

  • Zwischenstellung zwischen Diatonisch und Enharmonisch

  • (Bez. nach Aristides Quintilianus: Chroma = Farbe, liegt zwischen schwarz und weiß)
  • erfordert mehr musikalische Bildung als das Diatonische --> Kunstmusik
  • wurde schon immer in der Kitharödie verwendet, nicht dagegen in der Tragödie und von Künstlern, die dem alten Stil verpflichtet waren
  • Unterschiedliche ethische Bewertung:  
    unmännlich, vulgär
    sanft, gefühlvoll, überzeugend, Zerstreunung bringend
  • Anonymus Bellermann (spätantiker Traktat unbek. Autoren, zuerst editiert und hrsg. von Bellermann 1884): zugleich das freudigste und das traurigste Tongeschlecht.
  • --> Urteile von persönlichem und Zeitgeschmack abhängig

Enharmonisch

  • Aristoxenos: als letztes aller Tongeschlechter eingeführt, schwierig für das Ohr.

  • Galt als das anspruchvollste Tongeschlecht
  • Konnte nur von den hervorragendsten Künstlern gespielt werden
  • Enharmonische Elemente sind evtl. in den erhaltenen Zeilen Orest des Euripides erhalten
  • Enharmonisch war der typische Genus für die Tragödie des 5. Jhs. c. Chr.
  • Wurde wohl ab dem 4. Jh. v. Chr. nicht mehr benutzt, da es nicht eingängig war
  • Aristoxenos bedauert, daß das edelste und erhabenste Tongeschlecht von seinen Zeitgenossen (4. Jh. v. Chr.) fast vollständig verbannt wurde
  • Bewertung: edel, einfach, erhaben, einfach, rein, streng und herrisch zu Ablehnung

Lit.:

A.J. Neubecker, Altgriechische Musik (1977) 127 ff.

 



Aktualisiert am 31. Januar 2008

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